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Vom Bergmann
I. Prolog
Ungefähr um das Jahr 466 unserer Zeitrechnung begab es sich, dass der Geist des dämonischen Archons IALDABAOTH an sich selbst müde geworden war.
Sie war längst vorüber, jene Epoche, in der seine teuflische Boshaftigkeit die irdische Realität und die darin lebenden Menschen geformt hatten, die er in dieser Illusion gefangen hielt, damit sie ihm huldigten. Auch die Freude daran hatte er längst verloren.
Das Feuer in den Augen seines mächtigen Löwenhauptes erlosch zu einer schmalen Glut und sein schlangenförmiger Drachenlaib kringelte sich ein, wie zum Schlaf. In einem kleinen Tempel bei Nag Hammadi in Oberägypten ruhte IALDABAOTH viele Jahrzehnte lang und schaute in Träumen und Meditation auf Vergangenes und Kommendes. Doch er hatte keine Absicht mehr, daran teilzuhaben. In die Nichtexistenz verschwinden, wollte er ebenso wenig. Die Zukunft änderte sich mit jeder Wendung von IALDABAOTHs Gedanken.
Schon lange hatte er erkannt, dass er mit seinen schöpferischen Kräften lediglich ein Container für Mächte war, die noch weit über ihm standen, selbst wenn er als mächtiger Archon galt. Er akzeptierte, dass er einige dieser höheren Mächte gehörig verachtete, aber es war sinnlos, sich gegen diese zu erheben. Nun gab er sich ganz dem daraus entstehenden Gefühl seiner eigenen Kleinheit hin, deren Ablehnung stets seine Bosheit und Wut genährt hatte. Sein Bestreben, ein höheres Wesen zu werden, als das, was er bereits war, war zum Scheitern verurteilt. Er erkannte, dass er nicht nur bereits perfekt war, sondern auch am besten würde wirken können, wenn er das annahm, was er bereits verkörperte. Dies löste eine Trauer in ihm auf, von der er erst jetzt merkte, dass er lange Zeit unter ihr gelitten hatte.
Schließlich erlaubte er sich auch, die niederen Gedanken und Empfindungen der Menschen und der kleineren Kreaturen zu empfangen, was sein früheres Wesen als blasphemisch verstanden hätte. Er war durchaus fasziniert von dem Gedanken, eine Freundschaft zu pflegen. Als Korrektiv zu seiner Anfälligkeit für Verstimmungen und den daraus resultierenden Auswirkungen seiner Macht. Die Erkenntnis, dass dies ebenfalls ein egoistisches Ziel war, erheiterte ihn.
Nach und nach war IALDABAOTH erfüllt von tiefer Zufriedenheit, welche Ihn aus der Meditation erwachen ließ.
Er würde seine Form verändern müssen. Seine Macht bündeln. Für etwas ganz Anderes, das da kommen sollte.
II. 16. Juli 1938
Das Auto fuhr. Auf dem Rücksitz fummelten seine Hände angespannt an dem alten Buch herum, dessen Inhalt er genau kannte. Er schlug es auf. Er klappte es wieder zu. Hoffentlich sprach er die alten Verse korrekt aus. Er beherrschte kein Demotisch. Auch hatte er den Klang dieser Sprache noch nie gehört. In seinem Kopf ging er immer wieder die Geschichte durch, die in dem Buch geschrieben stand.
Demetrius Sethianus, der Priester des Gottes oder Dämons IALDABAOTH, erhielt vom diesem eine mächtige Laterne, in der diese Wesenheit seine eigene Essenz gebannt hatte. Wer die Laterne besaß, besaß damit auch die schöpferischen Kräfte von IALDABAOTH. Demetrius war kein Narr. Er belegte die Laterne mit einem Bannfluch, den nur derjenige brechen konnte, der die heiligen Worte sprach. Dennoch hielt er es für das Beste, die Laterne an einen weit, weit entfernten Ort zu tragen, wo man um IALDABAOTH nicht wusste. So begann für Demetrius eine lange Reise.
Die Laterne schützte ihren Träger, wodurch Demetrius unversehrt blieb. Er reiste von Alexandria nach Griechenland, zu Fuß erreichte er Thessaloniki, wo er einige Jahre lebte und arbeitete, bevor er weiterzog. Er durchquerte das römische Reich und die Balkanhalbinsel, überquerte die Donau und verbrachte mehr als drei Jahre unterwegs. Dabei nahm er sich Zeit, um verschiedene Kulturen kennenzulernen. Schließlich wurde er sesshaft im Gebiet, das heute als das Ruhrgebiet bekannt ist, aufgrund einer Frau – der Tochter eines germanischen Stammesführers. Bis zu seinem Tod arbeitete Demetrius als Bauer und hatte drei Söhne. Nebenbei dichtete er Lieder über die Völker, die er gesehen hatte.
Die Laterne versteckte er in einem unterirdischen Höhlentempel, von deren steinernen, runden Altar er Zeichnungen angefertigte. Nach seinem Tod soll seine Leiche unmittelbar in Flammen aufgegangen sein. Seine Geschichte, die er schriftlich dokumentiert hatte, erlangte nur deswegen eine größere Bekanntheit, weil die Reise von Demetrius für die damalige Zeit etwas Ungewöhnliches war. Die Laterne wurde im Allgemeinen als mystisches Symbol angesehen, das der Geschichte von Demetrius Sethianus eine besondere Würze verlieh. Aber nur wenige Menschen glaubten an ihre Realität.
Das Auto hielt. Fahrer und Beifahrer stiegen aus. Ihm wurde die Tür geöffnet. In seinen Brillengläsern spiegelte sich der Förderturm der Zeche Consolidation. Der Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, stieg nun ebenfalls aus dem Fahrzeug. Unter dem Arm hatte er das Buch geklemmt, in dem er so oft gelesen hatte. Seine rechte Hand schmerzte noch etwas, von dem Sarg, den er vor einer Stunde hatte tragen müssen.
Die Beerdigung von Emil Kirdorf, dem Konzernchef der Gelsenkirchener Bergwerks AG, war vorüber und Himmler war froh darüber. Manche Entscheidungen des Führers konnte er einfach nicht nachvollziehen. Hitler hatte eine wahrhaft prachtvolle Beerdigung organisiert. Natürlich war es eine Propaganda-Veranstaltung für das Volk. Kirdorf wurde zum Reichsidol stilisiert. Sofort nach der eigentlichen Beerdigung jedoch hatte Hitler ihn allein gelassen, mit fadenscheinigen Begründungen, er wolle den einfachen Leuten nicht länger ausgesetzt sein und habe überhaupt Kopfschmerzen von der langen Fahrt. Himmler ahnte jedoch, was Hitler gerade tat. Seit dem Anruf, der den Tod von Emil Kirdorf verkündete, parlierte Hitler nahezu ununterbrochen zum Thema Schweinebraten, dessen Genuss seiner vegetarischen Lebensweise eigentlich widersprach. Er schwelgte in diesem Zusammenhang in Erinnerungen an einen Parteigenossen, der in einer Villa in der Gelsenkirchener Altstadt ansässig war. Beim Schweinebraten, den jener Parteigenosse angeblich zur Perfektion getrieben habe, wurde Hitler philosophisch und für Himmler so unerträglich wie ein kleines Kind. Der Schweinebraten des Parteigenossen wäre beinahe schon ein Über-Schweinebraten, dem regulären Schweinebraten der Volkshausfrau haushoch überlegen. Sein Geschmack so vermeintlich filigran und verzweigt wie die Sprache von Nietzsches Zarathustra. Die Textur seiner Sauce so weich wie der Anblick des verschneiten Obersalzbergs. Heinrich Himmler glaubte an den Nationalsozialismus. Aber nicht immer glaubte er an Adolf Hitler. Aber Hitlers Abwesenheit verlieh Himmler etwas Zeit seinen eigenen Projekten nachzugehen. Und auf diese Gelegenheit hatte Himmler lang gewartet.
Auch wenn es Sonntag war, wurden sie selbstverständlich durch den Generaldirektor der Zeche Consolidation empfangen. Nach kurzem Plausch stellte er Ihnen einen älteren, erfahrenen Bergmann mit Namen Otto Knüller vor. Knüller war dürr wie ein Gespenst. Sein verdreckter Bart wird ursprünglich einmal weiß gewesen sein, dachte Himmler. „Der alte Staubteufel wird Ihnen zeigen, was wir da unten gefunden haben“, sagte der Generaldirektor, der in seinem gebürsteten Anzug neben Knüller sogar auf Himmler unangenehm dekadent wirkte. Knüller nickte mit dem Kopf und hustete.
III. Oktober 1964
Die Ärzte hatten Harald Kaminski bei seiner Geburt kein langes Leben vorhergesagt. Sie sollten recht behalten und sich dennoch irren. Fest steht, er wog bereits bei seiner Geburt ganze sechs Kilogramm. Das Schicksal hatte ihn mit einer seltenen Form des Riesenwuchses ausgestattet, welche in den Nachkriegsjahren weder bekannt, noch behandelbar war. Für Harald selbst war das nie ein Problem gewesen. Er war halt der Große. Der, der am stärksten war.
Im Alter von 20 Jahren war er ein regelrechter Koloss geworden, riesengroß und breit gebaut. Unter Tage nutzte man ihn dazu aus, die schweren Gerätschaften zu tragen. Es war kein seltener Anblick, wenn der junge Harald mit zwei schweren Bohrmaschinen geschultert in einem dunklen Schacht verschwand, und wenig später zurückkehrte, wobei er eine mit Kohle gefüllte Lore allein hinter sich herzog. Er liebte diese Arbeit, auch wenn ihn nur wenige Bergleute ernst nahmen. Es war allgemein bekannt, dass Harald außer seiner Körperkraft keine großen Talente besaß.
Am liebsten hatte Harald den alten Otto Knüller, von dem niemand genau wusste, wie alt er wirklich war und der sich zwar nur selten wusch, dafür aber die tollsten Geschichten zu erzählen wusste. Otto lebte quasi unter Tage und im Winter schlief er auch häufig hier. Einmal traf Harald ihn am Ende seiner Schicht am Tunnelausgang auf dem Boden sitzend. Da Otto dafür bekannt war, in seinem Rauschebart gern einen Schoppen Korn zu verstecken, setzte sich Harald zu ihm. Zusammen warteten sie, bis die anderen Bergleute in der Kaue verschwanden, um sich zu waschen und nach Haus zu gehen. Als der letzte verschwunden war, holte Otto den Korn aus einer geheimen Tasche seines verfilzten Bartes hervor. Harald staunte darüber, dass es diesmal eine große Flasche geworden war.
„Weißt du Harri, du musst auch mal Nein sagen lernen“, sagte Otto und trank einen Schluck Korn. „Du hast ein großes Herz, Harri, du weißt was Gerechtigkeit ist, aber du bist auch ein alter Esel, der sich ausnutzen lässt.“ Harald schwieg. Er tat seine Arbeit gern. Die Arbeit war, was ihn ausmachte. Er konnte nichts dafür, dass nicht alle ihn mochten. Er hatte das dem alten Otto schon ein paarmal zu verstehen geben wollen, aber dieser lies dann nicht locker und gab Harald Verhaltenstipps, wie er mit den Kumpeln umzugehen hatte. Heute wollte Harald dieses Gespräch jedoch nicht führen.
„Otto“, sagte er, „du hast doch mal den Heino Himmler getroffen. Erzählst du mir davon noch mal?“
„Heinrich Himmler“, sagte Otto. „Nicht der Schlagersänger. Der Nazi. Der war hier. Der Hitler auch. 1938. Sie haben den alten Kirdorf unter die Erde gebracht. Bei der Zeche Rheinelbe. Danach stand hier der Himmler. War mit dem Auto angefahren. Steif wie ein Brett. Gelackt wie ein Affe. Den rechten Arm rauf und runter machen, das konnten die gut. Er und seine drei Begleiter. Der Direktor wollte, dass ich ihm das alte Loch am Schacht 13 zeige. Da hatten wir diese Kammer gefunden. Du weißt, dass ist diese Kammer mit dem großen, runden Stein, den man sehen kann, wenn man am Ende vom Schacht 2 gerade nach unten guckt. Tausendzweihundert Meter glaube ich. Ist nie gut gesichert worden, deswegen sollte man beim Runtergucken immer vorsichtig sein.“ Otto lachte und trank einen Schluck Korn. Er reichte Harald die Flasche. Dieser griff dankbar zu.
„Na ja, beim Schacht 13 hatten wir diese Kammer damals gerade entdeckt. Ein großer, flacher, runder Stein mit Zeichnungen drauf. Ein paar Leute mit weißen Kitteln waren gekommen und haben Fotos gemacht. Dort durften wir nichts verändern, hieß es. War mir recht. Ist ein schöner Stein. Musst Du dir mal angucken, Harri. Vor tausend Jahren haben hier auch Leute gelebt, weißt du. Leute, wie du und ich. Die haben diesen Stein dort hingelegt und ihre Götter angebetet oder was weiß ich.“ Otto lachte wieder. Harald lachte auch. Er liebte diese Geschichten. „Was ist dann passiert?“ fragte er.
„Am Eingang zur Kammer wies Himmler seine Wachhunde und den Direktor an, ohne ihn den sofortigen Rückweg anzutreten. Er wolle allein sein. Ich musste bleiben, da er ohne mich den Rückweg nicht bewerkstelligen konnte. Die rechten Arme gingen hoch und runter, dann gingen sie. Als sie außer Sichtweite waren, holte er seine Pistole aus dem Halfter und drohte damit, mich und meine Familie auszulöschen, wenn ich je darüber sprach, was ich nun sehen würde.“ Harald guckte unsicher, aber Otto lachte wieder. „Nun, Himmler ist tot. Und meine Familie auch. Vor ihm muss niemand mehr Angst haben.“ Harald war unsicher. „Er betrat die Kammer und sah den Stein. Dann begann etwas, das ich wohl nie vergessen werde.“ „Was?“ fragte Harald.
„Das wüsste ich auch gern, ich habe es nie verstanden“ sagte Otto nachdenklich. Dann wurde er wieder heiter. „Erst zündete er Kerzen an und blätterte ständig in einem Buch, das er mitgebracht hatte. Das Tagebuch von Demetrius Sethianus, so ein alter Wanderprediger war das, glaube ich. Ziemlich alter Schinken. Hab es irgendwann als Kind mal gelesen. Er schlich um den Stein herum und sprach seltsame Laute in alle vier Himmelsrichtungen. Dann zog er sich nackt aus. Kannst du dir das vorstellen? Ich habe also wirklich Himmlers Schwengel gesehen.“ Harald war unsicher, ob er lachen dürfe oder nicht. Er verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln. „Er stellte sich bierernst vor den Stein und streckte beide Hände in die Luft.“ Otto stand auf und ahmte Himmlers Bewegungen nach. „Er rief erst einzelne Laute wie „Üüüüühhhh!“ und ein sehr kehliges „NNNNNNNNNN!“ Als dieses verhallt war, schrie er dann Worte, an die ich mich nicht mehr genau erinnern kann. Eine Sprache, die ich nicht kenne. Spitze Laute, die er in die Luft peitschte. Zwischendurch immer etwas, das wie „Yalla, Yalla“ klang, was die Türken sich oft zurufen. Er wandte sich dabei abwechselnd in alle vier Himmelsrichtungen. Das tat er eine ganze Stunde lang.“
„Was ist dann passiert?“ fragte Harald. „Nichts. Er zog sich wieder an und sah dabei beleidigt aus. Ich hatte eine Scheißangst vor diesem Mann.“ sagte Otto. Als er seine Uniform zurechtgezurrt hatte, bedeutete er mir, ihm den Rückweg zu zeigen. Das ging dann auch wirklich schnell. Wir gingen den Tunnel entlang, stiegen in den Korb und fuhren nach oben. Dort setzten sich alle in ihr teures Auto und fuhren davon. Ich habe die Nacht nicht gut schlafen können.“
Harald blieb noch eine ganze Weile beim alten Otto und ließ sich noch ein paar andere Geschichten von ihm erzählen, bevor er vom Korn benommen nach Haus torkelte.
Was der alte Otto Harald nicht erzählen konnte war, was auch Heinrich Himmler in jener Nacht nicht erkannte. Himmler dachte in der Folgezeit stets, dass er die Worte nicht richtig intoniert hätte. Dabei übersah er, dass die Worte in einem magischen Ritual oft nur eine untergeordnete Rolle spielen. Die Intention des Sprechenden ist von höherer Bedeutung. Der Vollständigkeit halber aber, sollen die Worte des Rituals hier abgedruckt sein:
„ẖr rḥw imt nb ḥrwt, ntr-ḥꜣt ra nṯrw ḏlḏbwt, mnf.
ym r zḫʿ, ntr ntrw, r-tꜣḥw tꜣ n kꜣs, njr ḥr ẖtmw ẖʿ-tp.
wn ẖtmw r-zmn n r-ḥr, wp-ẖnt-f ỉỉi nfr-tꜣ mạa ỉḫ.
mꜣ-ỉỉi n wḏʿ ẖꜣỉ mạa r-gꜣnn m’ỉỉ, ntr ỉỉit wjz m’ỉỉ.“
Heinrich Himmler hatte mit seinem Ritual durchaus Erfolg erzielt. Sein oberflächliches Wissen verhinderte jedoch, dass ihm daraus aus Vorteil erwuchs. Die Laterne des mächtigen IALDABAOTH war in der Mitte des runden Steines erschienen, der Fluch von Demetrius Sethianus war gebrochen worden, aber nur, wer wie ein Priester oder ein Sterbender mit einem Bein in der Welt der Toten stand, hätte sie überhaupt wahrnehmen können. So nahm Himmler aus Gelsenkirchen nur eine Enttäuschung mit und das Wissen, sich vor einem bärtigen Greis nackt ausgezogen zu haben. Als er am 23.05.1945 Suizid beging, war er angefüllt mit noch viel mehr Wissen um die okkulten Dinge, aber vor allem mit der großen Leere aller Eroberer. Er wusste, selbst wenn er die Laterne hätte sehen und greifen können, wäre IALDABAOTH nicht sein Freund geworden.
IV. 24. Dezember 1964 morgens
Harald freute sich auf den Glühwein, der heute mit Sicherheit unter Tage die Runde machen würde und stieg in der Alfredstraße in den Bus zum Bergwerk ein. Er stand nicht gern, denn aufgrund seiner Größe musste er sich dabei ducken. Er sah sich um. Ganz hinten im Bus war noch ein Platz frei. Neben Arno Kiesling. Harald schluckte, aber er wollte lieber sitzen als stehen, denn vom Stehen bekam er manchmal einen steifen Nacken. Arno Kiesling war ein Schwein, das seine Frau schlug. Schon morgens war er oft betrunken. Er fummelte sich gern im Bus in der Hose herum. Heute stank Arno nach billigem Rum. Er war nicht mal in der Lage das „Guten Morgen“ zu erwidern, das Harald ihm beim Hinsetzen widerwillig zuraunte. Ein Teil der Bergleute hatte ebenfalls bereits etwas getrunken. Vorn beim Fahrer sangen sie „Der Steiger kommt“. Jemand hatte Harald beim Einsteigen freundschaftlich auf die Schulter geklatscht. So waren sie, die Kumpel. Und dennoch war es immer auch so, als ob man ein Piratenschiff betrat.
Beim Haverkamp stieg eine Schulklasse hinzu. Grundschule. Klassenausflug zur Zeche. Arno Kiesling stierte die kleinen Mädchen an. Seine rechte Hand wanderte in seine Hose und begann, seinen Penis zu reiben. Harald wurde übel. Die Situation machte ihm Angst. Nie tat jemand etwas, wenn Arno Kiesling dieses Verhalten zeigte. Es wurde stillschweigend ignoriert, denn ansonsten gäbe es eine Schlägerei. Und in Schlägereien war Arno Kiesling gut. Er übte ja ständig an seiner Frau. Harald pochte das Herz bis zum Hals.
„Hör bitte damit auf.“ Sagte Harald schließlich seitlich in Arno Kieslings Richtung. Ihn dabei anzusehen traute er sich nicht. Arno hörte auf. Seine Hand verließ seine Hose. Haralds Atem ging kurz und stoßweise. Er wollte einfach nur noch bei der Arbeit ankommen.
Arno Kiesling stand von seinem Platz auf. Er stellte sich direkt vor Harald hin. Seine Hose ließ er herunterfallen. Während er seinen erigierten Penis auf Höhe von Haralds Kopf massierte starrte er Harald direkt in die Augen. „Was willst Du tun, du riesiger Schwachkopf? Tust doch eh nichts. Bist zu dumm dafür.“ fauchte er Harald an. Einige der Bergleute johlten, andere wandten sich angewidert ab. Die Kinder im hinteren Teil des Busses waren schockiert. Ein paar von ihnen weinten. „Zieh die Hose wieder an, du Vollidiot!“ rief der Busfahrer von vorne. Er hielt Ausschau nach einem Platz, um den Bus anzuhalten.
Im Bruchteil einer Sekunde hatte Harald Arno Kieslings Penis an der Wurzel gepackt und begann, diesen zu quetschen. Er drückte so kräftig zu, dass die Eichel augenblicklich blau geworden und gespannt war bis zum Platzen. Arno Kiesling begann panisch, Haralds Kopf mit Faustschlägen zu traktieren. Harald, der noch nie zuvor in eine Schlägerei geraten war, merkte, dass Arnos Faustschläge ihm nicht viel anhaben konnten. „Ich reiß‘ dir das Ding ab!“ schrie Harald barsch. Der Bus hielt an.
Harald lies Arno Kieslings Penis los. Dieser sah merkwürdig verformt aus. Ein Arzt würde sich darum kümmern müssen. Seinen regulären Zweck würde dieser Penis jedoch in der kommenden Zeit nicht mehr erfüllen können. Ein paar der Bergleute fingen an zu klatschen, als Harald vollkommen überfordert den Bus verließ.
Den Rest des Weges zur Zeche lief Harald zu Fuß. Zwischendurch setzte er sich noch einmal hin, um sich zu beruhigen und starrte auf den Förderturm der Zeche Consolidation. Er musste an seine Mutter denken, die aufgrund seiner enormen Größe bei seiner Geburt gestorben war. Wäre sie heute enttäuscht von ihm gewesen? Harald wusste es nicht.
Die Zechenleute empfingen ihn mit Jubel. Harald fragte sich, ob er diesen verdient hatte. Dem Schwein habe er es so richtig gezeigt, hieß es. Der alte Otto Knüller lachte ununterbrochen und sprang herum. „Komm nach der Schicht zu mir, Harri“, sagte er. „Ich habe Rum dabei. Und Glühwein. Wir feiern. Wir feiern dich! Und natürlich den Herrn Jesus Christus! Hahaha!“
Harald versuchte, es einen ganz normalen Tag werden zu lassen.
V. 24. Dezember 1964 abends
Harald schleppte Maschinen hin und her und zog Loren an die Oberfläche bei Schacht 2. Irgendwann dann war seine Schicht zu Ende. Immer noch war er traurig über die Geschehnisse am Morgen. Auch die Reaktion der Kumpel auf seine Tat hielt er für nicht angemessen. Er fragte sich, was passiert wäre, wenn er Arno Kiesling nicht angesprochen hätte. Arno wäre zur Arbeit gefahren. Nach der Arbeit wäre er wieder nach Hause gefahren und hätte vermutlich wie immer seine Frau verprügelt. Das tat er jetzt vielleicht ebenfalls. Vielleicht sogar extra hart, weil seine Wut auf Harald so groß war. Harald schwankte zwischen den Möglichkeiten, Arno Kiesling in Ruhe zu lassen und ihm in seinen Gedanken das Genick zu brechen, damit er niemandem mehr etwas Böses würde antun können. Seine Gedanken, ihm den Hals zu brechen waren sehr detailreich.
Auch wenn es Weihnachten war, erwartete Harald zu Hause nichts. Nach den Geschehnissen des Tages wollte er aber auch nicht den alten Otto Knüller aufsuchen. Dieser würde nur wieder versuchen, ihm ins Gewissen zu reden. Harald wusste, dass Otto ihn sehr gern hatte. Aber er wusste auch, dass Otto wusste, dass Harald dumm war. Und das tat Harald manchmal weh.
So stierte er am Ende von Schacht 2 gedankenverloren in die Tiefe. Dort unten lag der kreisrunde Stein mit den Zeichnungen, für den einst der wichtige Mann angereist war. Harald legte seine Arme auf das provisorische Geländer. Was hatte Otto noch über den Stein gesagt? Vor tausend Jahren haben hier auch Leute gelebt. Leute, wie du und ich. Die haben diesen Stein dort hingelegt und ihre Götter angebetet. Wie hatte der wichtige Mann gleich geheißen? Himmler, ja. Heino Himmler.
Harald war so gedankenverloren, dass er nicht merkte, dass er nicht allein war. Was ihn am Ende noch wunderte war der Gedanke, dass es bei ihm nicht so sein sollte, dass sein komplettes Leben an ihm vorbeizog. Auch war da kein Licht am Ende eines Tunnels. Er bekam einfach einen mächtigen Tritt in den Rücken. Sofort war da der Schacht, in den er fiel. Immer wieder prallte er gegen die Schachtwände wie ein Pingpong-Ball. Das war schmerzhafter als er dachte. Und dann kam ihm der runde Stein immer näher. Auf dem Stein lag etwas, das farblich schimmerte. Er wollte eine Hand danach ausstrecken, aber seine Hände waren wohl bereits irgendwo im oberen Bereich des Schachtes abgerissen worden. Ironisch, dachte Harald. Noch heute Morgen war er kurz davor, selbst jemandem ein Körperteil abzureißen. Er fragte sich, was seine Mutter wohl bei ihrem Tod gedacht haben mag. Dann prallte er auf und da war nur noch Dunkelheit.
VI. 24. Dezember 1964 nachts
Otto Knüller hatte wie so oft im Winter in einem der Tunnel geschlafen. Betrunken wachte er aus einem Albtraum auf. Er hatte Geräusche gehört, die ihn beunruhigten. Eine innere Stimme sagte ihm, dass zu den Geräuschen eigentlich ein Schrei hätte passieren müssen. Aber ein Schrei war nicht gefallen.
So machte sich Otto torkelnd auf, zu dem Ort, den er als Quelle der Geräusche erahnte. Je näher er der Quelle kam, desto lauter wurde ein in der Luft liegendes Knistern, wie die Geräusche eines Elektrizitätswerkes bei Regen. Otto war angst und bange. Er fühlte, dass etwas Schreckliches geschehen war. Es musste mit dem jungen Harald zu tun haben, der ihn gestern nicht mehr aufgesucht hatte. Das tat Harald eigentlich nie.
Otto wankte um die Ecke in den Eingang zum Schacht 2, an deren Ende sich das Loch befand, wo es tausendzweihundert Meter in die Tiefe ging. Harald wird doch wohl nicht etwa…? Otto wagte den Gedanken nicht zu Ende zu denken. Aus der Ferne schon bemerkte er eine Art Wabern in der Luft, das von der Öffnung am Ende des Ganges ausstrahlte. Kurz bevor er das Loch erreichte, wurde er durch eine Druckwelle zu Boden geworfen. Eine gleißende Helligkeit erfüllte den Tunnel. Otto hörte ein schauriges, wütendes Brüllen, wie von einem Tier, das es eigentlich nicht geben sollte. Als Otto den Kopf neigte, um aufzustehen, sah er, wie ein gewaltiger, goldglänzender Schlangenlaib an ihm vorbeizog, den Ausgang des Tunnels anstrebend. Otto wurde ohnmächtig.
Harald Kaminski blieb verschwunden. Man fand keine Leiche, keine Haare, kein Blut. Die Ausführungen des alten Otto Knüller über eine fliegende goldene Schlange wollte niemand so recht glauben. Jedermann auf der Zeche mochte Otto. Aber er war ein alter Wirrkopf, oft betrunken und seit Ende des Kriegs erblindet.
Am Morgen des 25.12.1964 jedoch, sollte Arno Kieslings Frau nehmen der entstellten Leiche ihres Ehegattens aufwachen. Dem Obduktionsbericht zufolge war Arno Kiesling vor Angst gestorben.
VII. 13. Dezember 2023 – 04:35 Uhr
Baba Mahmood al-Masri hatte eine schlechte Zeit. Und nun wieder dieser Albtraum. Er stand auf, rieb sich die Augen und wandelte im Pyjama immer auf und ab über den Holzfußboden im Obergeschoss seines Hauses in Gelsenkirchen Ückendorf. Die Dielen knarzten unter seinen schlurfenden Schritten.
Warum tat sie ihm das an, fragte er sich. Warum nur, tat sie es ihm immer und immer wieder an – und immer dann, wenn er eine schlechte Zeit hatte. Sie musste immer noch einen draufsetzen. Sie verhöhnte ihn. Wollte ihn leiden sehen. Wollte sehen, wie er schwach war und machte sich aus der Ferne über ihn lustig. In der Stille war es manchmal so, als könne er sie kichern hören. Aber das bildete er sich wohl nur ein.
Die elende Hexe. Allah möge sie strafen für ihre schändliche Existenz. Erneut war sie ihm im Traum erschienen. Hatte ihn erst angelächelt und dann wieder ihre dünne kleine Hand um seinen Hals gelegt und begonnen, ihn zu würgen, dass er dem Ersticken nahekam. Sie schaute ihm dabei tief in die Augen, um die aufsteigende Todesangst zu sehen, an der sie sich labte. Manchmal dachte Baba Mahmood, sie würde sich von seiner Angst ernähren, sie geradezu in sich hinein trinken. Seine kleine, abtrünnige Schwester Sheila, die sich selbst nur noch Nassaya Ahlam nannte – die Traumweberin. Ein anmaßender Name und doch irgendwie passend für das, was sie tat. Baba Mahmood fragte sich, ob er sie in ihrer Kindheit wohl zu oft geschlagen hatte, oder viel zu wenig, dass sie heute diese grausamen Späße mit ihm trieb. Er rieb seinen Hals und atmete tief durch. Er würde nicht mehr einschlafen können. Nun gut, so war es also.
Er zog seinen roten Morgenmantel an und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Mit der gefüllten Tasse betrat er seinen Balkon. Es war stockdunkel und kalt. Baba Mahmood zündete sich eine Zigarette an, sog den Rauch ein und überlegte, den Kaffee vielleicht doch gegen ein Glas Rotwein zu tauschen. Sheila hatte ihm jetzt schon den Tag verdorben. Generell ging es gerade irgendwie den Bach runter. Was sollte es also. Er ging wieder hinein, schüttete den Kaffee in den Ausguss, öffnete eine Flasche Bordeaux, goss sich ein Glas ein und betrat wieder den Balkon. Er nahm einen großen Schluck auf leeren Magen und hoffte, der Alkohol würde ihm zumindest ein wenig Entspannung verleihen. Er starrte in die dunkle Natur hinter seinem Haus. Kahle Bäume und Sträucher. Ein leichter Wind heulte und wehte das Laub auf. Eigentlich ist es hier ja ganz schön, dachte er sich.
Baba Mahmood al-Masri war in so gut wie jedes kriminelle Geschäft in Gelsenkirchen verwickelt und bei Gelegenheit auch darüber hinaus aktiv. Gelegenheiten gab es regelmäßig. Drogenhandel und Prostitution gehörten seit jeher zu seinem Alltagsgeschäft im Stadtgebiet. Wenn es sich ergab, handelte er jedoch auch mit Menschen, denn das brachte ihm gutes Geld ein. Das eine oder andere Mal schon hatte er Säuglinge von Zuwanderern an vermögende Menschen im Ausland verkauft. Den Eltern der Kinder gab er nur so viel von der Beute ab, dass sie in Kürze wieder von ihm abhängig sein würden. Dann regte er sie an, einfach weitere Kinder zu bekommen. Er ließ sie kostenfrei in einem seiner Häuser wohnen und schickte ab und zu jemanden, der sich um einfache Belange der Menschen und um die Amtsgänge kümmerte. Manche Menschen vermehrten sich wie Karnickel, das wusste Baba Mahmood. Und nicht jedes Kind dieser Menschen wurde in einem Krankenhaus geboren und vom Staat registriert. Mit ein paar gönnerhaften Schmeicheleien hatte er sich ein paar Sklaven eingekauft, die für jeden Brotkrumen, den Baba Mahmood ihnen hinwarf, dankbar waren. Und woanders bekamen dafür Menschen ein Kind, die auf regulären Wegen keines bekommen konnten. Vielleicht brauchten sie auch nur die Organe. Baba Mahmood fragte nicht nach. Eigentlich florierte sein Geschäft. Diesseits des Kanals kontrollierte er fast alle Gebiete von Ückendorf bis Schalke-Nord. Den Straßenhandel in Bismarck wollte er als nächstes unter seinen Einfluss bringen. Im Laufe eines Jahrzehnts hatte er seine Mitarbeiter bei der Polizei und bei der Stadtverwaltung eingeschleust, so dass ihm niemand wirklich gefährlich werden konnte. Auch trat er niemals selbst auf den Plan, sondern ließ seine Leute die Drecksarbeiten machen. Es hätte es ein schönes Leben werden können, wären da nicht seine Schwester und dieses… Baba Mahmood wusste noch nicht so recht, wie er das neue Phänomen bezeichnen sollte… dieses Phantom, das offenbar seine Männer ausschaltete.
Im Sommer hatte es angefangen. Im Juli. Da hatte es als Erstes den kleinen Joel erwischt. Er war erst vierzehn Jahre alt, aber Baba Mahmood hatte selbst schon als Kind Geschäfte gemacht, also störte ihn das Alter des Jungen nicht. Joel war einer seiner zuverlässigsten Mitarbeiter und wurde hauptsächlich für Botengänge benutzt, die Baba Mahmood ihm großzügig vergütete. An einem Abend im August sollte er einen Rucksack mit zehn Kilogramm Kokain von einem Mann entgegennehmen, der ihm diesen aus der geöffneten Tür einer S-Bahn an der Haltestelle Zoo Bahnhof angab. Joel war pünktlich vor Ort. Der Mann gab ihm den Rucksack und fuhr mit dem Zug weiter. Den Rucksack sollte Joel dann zu Karl und dem großen Mohammed bringen, die mit dem Auto am Parkplatz bei der Tropenhalle der Zoom Erlebniswelt auf ihn warteten. Es war das erste Mal, das Joel einen Kurierjob übernahm, bei dem Drogen im Spiel waren. Er war mit einem Elektroroller unterwegs. Karl und Mohammed gaben ihm für seinen Dienst 100 Euro, die er mit goldenen Augen eingesteckte. Anschließend fuhr er mit dem Elektroroller zurück nach Hause, Richtung Schalke, immer die Bismarckstraße entlang. Es war nach 22 Uhr und schon dunkel geworden.
Joel wurde nach diesem Abend überraschenderweise nicht mehr gesehen und ging auch nicht ans Telefon, wenn einer von Baba Mahmoods Männern ihn anrief. Erst, als Karl und der große Mohammed ihn draußen vor seiner Wohnung anhielten und ihn in ihr Auto zwangen, begann er zaghaft zu erzählen, was sich am besagten Abend weiter ereignet hatte. Alle hielten die Geschichte zuerst für einen Scherz.
Joel war die Bismarckstraße hochgefahren. Auf der Höhe der Zeche Consolidation hatte er an der Kreuzung Consolstraße einen auffälligen Mann stehen gesehen, der einen schmutzigen, weißen Arbeitsanzug und einen ebenso schmutzig-weißen Helm trug. Er war riesengroß gewachsen, soll sogar größer gewesen sein als Mohammed und hielt eine altmodische Laterne in der Hand, die er anhob, als Joel sich ihm auf dem Roller näherte. Der Mann starrte Joel direkt ins Gesicht. Dieser hielt sein Auftreten für eine Art Karnevalsverkleidung, wich dem Mann auf dem Elektroroller durch eine leichte Kurve aus und fuhr geradeaus weiter.
Ein paar Meter weiter blickte Joel noch einmal zurück über die Schulter, aber da war der Mann verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Joel hörte eine Stimme, wie wenn jemand aus der Ferne nach ihm rief. „J O E L!“ rief die Stimme. „J O E L!“ Er konnte nicht genau erkennen, aus welcher Richtung die Stimme kam. Aber an der Kreuzung zum Ahlmannshof stand der unheimliche Mann mit dem schmutzigen Arbeitsanzug und der Laterne schon wieder. Joel fragte sich, wie er so schnell dorthin gekommen war. Wieder hob der Mann seine Laterne als der Junge mit dem Roller näherkam und starrte ihm dabei direkt in die Augen. Joel konnte nun dessen Gesicht näher erkennen. Es war schmutzig verschmiert und aschfahl, wie das Gesicht eines Toten. Etwas stimmte nicht mit seinen Augen, aber Joel erkannte nicht was es war.
„J O E L!“ hallte es hinter ihm, nachdem er erneut an dem Mann vorbeigefahren war. Dann überfiel Joel eine Art Tinnitus und die Stimme bellte weiter in seinem Kopf. „BIST DU SICHER, DASS DU DAS RICHTIGE TUST, J O E L?“ Die Stimme lachte hallend. „SOLL DAS JETZT DEIN LEBEN SEIN, J O E L?“
Joel bekam es mit der Angst zu tun, gab noch einmal Gas und bevor er überhaupt verstand, was er tat, überfuhr er den Bahnübergang, dessen Schranken sich gerade schlossen. Wieder bebte dieses bellende Lachen durch die Luft. Der Roller strauchelte beim Überfahren der Gleise, dann duckte sich Joel, um nicht von der zweiten herabsinkenden Schranke erschlagen zu werden. Sofort danach überfuhr er panisch und ohne sich umzusehen die Straßeneinfahrt zur Hohenzollernstraße. Ein Auto bremste scharf ab. Der Fahrer hupte wütend. Joel blickte zurück, um nach dem unheimlichen Mann Ausschau zu halten.
Er sah ihn nicht mehr. War er wohl noch da? Als Joel wieder nach vorn blickte, verzog sich sein Gesicht zu blankem Entsetzen. Zum Schreien war es bereits zu spät. Sein Roller erfasste einen Einkaufswagen, den jemand mitten auf dem Gehweg platziert hatte. Joel flog durch die Luft und schaffte es noch, die Arme schützend vors Gesicht zu halten. Er kam mit dem Oberkörper auf, rollte herum und schlug mit der Stirn noch leicht gegen eine Hauswand. Kurz wurde es schwarz vor seinen Augen und er blieb liegen. Auch ohne es sehen zu können, wusste Joel instinktiv, dass der Mann mit der Laterne nun über ihm stand und ihn anstarrte. Auch wusste er, dass dieser seine Laterne anhob, um das vibrierende Licht darin zu betrachten, bevor er verschwand. Irgendwann schaffte es Joel, aufzustehen und nach Hause zu gehen. Er hatte sich ein paar schmerzhafte Prellungen und Schrammen zugezogen, war aber ansonsten unverletzt. Für Baba Mahmood arbeiten wollte er jedoch nicht mehr. Sogar die 100 Euro hatte er Karl und Mohammed zurückgegeben.
Alle hielten das erst für eine Spinnerei, die Joel sich ausgedacht hatte, um aus den Geschäften auszusteigen, da er nicht den Mut besaß, dieses Baba Mahmood direkt zu sagen. Aber gut, man respektierte seine Entscheidung. Der Junge wurde in Ruhe gelassen.
Im August aber ging der Spuk weiter. Dennis, Igor und Ferhat kamen eines Nachts aus Düsseldorf zurück. Nachdem sie ein paar Tage lang einen niederländischen Akzent eingeübt hatten um ihre Spuren zu verwischen, sprengten sie in der Düsseldorfer Altstadt im Schutze der Dunkelheit einen Geldautomaten. Igor und Ferhat übernahmen die Sprengung. Dennis hatte einen schwarzen Audi gestohlen, mit dem sie die Flucht antraten. Bei Lintorf ließen sie den Wagen in einem Waldstück stehen und fuhren den restlichen Weg mit einem weißen Transporter zurück. Nachdem sie in Gelsenkirchen Bismarck von der Autobahn abgefahren waren, meinte Dennis dann, im Rückspiegel einen schwebenden Mann in weißer Kleidung gesehen zu haben, der sie verfolge. Dennis schwor Baba Mahmood hoch und heilig, Igor und Ferhat hätten den schwebenden Mann im Rückspiegel ebenfalls gesehen. Ein Bergmann sei es gewesen, in der Kleidung, die auch Dennis‘ Vater früher unter Tage getragen hatte. Eine Laterne habe er in der Hand gehalten und damit durch den Rückspiegel grelle Blitze in Dennis‘ Augen geschossen. Dann tauchte der Mann auch direkt neben dem Fahrzeug auf und blickte ihnen ins Gesicht. Dennis beschleunigte. Igor und Ferhat schrien. Der Mann habe sie abwechselnd bei ihren Vornamen gerufen. Dabei war nicht auszumachen, woher die Stimme genau kam, aber sie klang bellend laut in Ihren Köpfen und sie machte deutliche Anklagen. „D E N N I S!“ rief die Stimme. „DU HAST DEINEN GROẞVATER ZU HAUSE VERHUNGERN LASSEN UND IHM SEIN ERSPARTES GESTOHLEN!“ Dennis weinte und zitterte, als er bei Baba Mahmood saß und ihm die Geschichte erzählte. Der Mann sei dann schwebend in Flammen aufgegangen, habe sich in eine Art großen, schlängelnden Feuerball verwandelt, der immer wieder nach vorn in Fahrtrichtung flog, um bei seinem Rückweg die Frontscheibe anzuvisieren und dann eng am Auto vorbei zu schießen. Dabei sah Dennis im Feuerball das aufgerissene Maul eines Löwen, das sie anklagend anbrüllte. In Panik sei Dennis dann einfach geradeaus die Reckfeldstraße durchgefahren, bis zum Ostfriedhof. Er habe nicht mehr gut bremsen können, den Parkplatz verfehlt und stattdessen mit dem Transporter in einer Linkskurve das Gatter zum Friedhof durchschlagen. Nachdem der Wagen endlich zum Stehen kam, rissen sie die Türen auf und rannten wie die Hasen.
Dennis wusste nicht, wohin er fliehen konnte. Er lief tiefer ins Gelände des Friedhofs hinein, bis der brennende Bergmann wie aus dem Nichts schwebend vor ihm auftauchte und Dennis eine Kehrtwende machte und wieder zurück zum Auto lief. Aus der Ferne sah er dann Entsetzliches. Igor und Ferhat schwebten, von einer Art Schlange aus Feuer festgehalten, in der Luft. Ihre Schreie gellten durch die Nacht, als sich eine ihrer Gliedmaßen nach der anderen in absurden Winkeln krümmten und verdrehten, während der feurige Leib um sie herumfuhr. Als beide jeweils wie zu einer Art Kugel geformt waren, erschien der Bergmann erneut wie aus dem Nichts und schleuderte sie mit zwei einfachen Handbewegungen durch die Windschutzscheibe in die Kabine des Fahrerhauses, wobei er entsetzlich lachte. Das Auto ging in Flammen auf. Dennis rannte, kletterte über einen Zaun um das Friedhofsgelände zu verlassen und rannte weiter ohne sich umzublicken.
Baba Mahmood war von dieser Geschichte zutiefst beunruhigt. Aber nachdem, was Joel erzählt hatte, glaubte er Dennis. Und die verbrannten Leichen von Igor und Ferhat waren tatsächlich entsetzlich verdreht und zerquetscht aufgefunden worden. Gut nur, dass das Feuer eine Menge Spuren verwischt hatte. Baba Mahmood verstand jedoch, dass er möglicherweise ein größeres Problem hatte, was seine Pläne betraf, den Straßenhandel in Bismarck unter seine Kontrolle zu bringen. Auch in der Zeitung häuften sich die Berichte über rätselhafte Todesfälle in den kriminellen Milieus, verbrannte Leichen und andere Leichen, bei denen nur die Augen ausgebrannt waren. Manchmal starben sie wohl auch einfach nur vor Angst. Ein paar der Opfer waren auch am Leben geblieben und in die geschlossene Psychiatrie des evangelischen Krankenhauses eingeliefert worden. So las man in der Zeitung auch die Geschichte eines Mannes, der komplett durchnässt in der Polizeiwache aufgetaucht war. Dort gestand er aufgeregt, seinen Zwillingsbruder vor vielen Jahren beim Mord an ihrem Vater gedeckt zu haben. Der Bruder habe den Vater über viele Stunden lang geschlagen und gequält bevor er letztlich getötet wurde, hieß es. Das Motiv sei einfach nur Geld gewesen. Beide Brüder waren hochgradig drogenabhängig. An einem Abend im August dann, sei beiden beim Angeln am Kanal der Geist eines Mannes mit einer Laterne erschienen, der über dem Wasser schwebte. Die Brüder waren betrunken gewesen und seit mehreren Tagen konsumierten sie auch Amphetamine, so dass man davon ausging, dass sie wohl halluzinierten. Was sich nachweisen lässt ist, dass ein Bruder im Kanal ertrunken war. Auch hatte dieser an dem Abend ergänzend einen Herzinfarkt erlitten. Der überlebende Bruder wurde ins evangelische Krankenhaus eingewiesen. Der weitere strafrechtliche Verlauf der Geschichte war noch unklar.
Baba Mahmood war durchgefroren und hatte auf dem Balkon nun schon das zweite Glas Bordeaux ausgetrunken, das ihm nur wenig Linderung gebracht hatte. Wenigstens breitete sich eine wohlige Wärme in seinem Bauchraum aus und er hoffte, dadurch vielleicht noch zwei Stunden Schlafen zu können, wenn seine Gedanken ihn ließen. Er betrag die dunkle Küche und schloss die Tür.
Noch bevor er sich umdrehte, bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. Es lag etwas Seltsames in der Luft. Er drehte sich um und realisierte, dass er nicht allein war. Seine Mundwinkel fielen nach unten und kalter Schweiß lief ihm den Rücken herunter. Dort hinten, in der hintersten Dunkelheit des Raumes saß sie, beide Beine lasziv auf den Küchentisch gelegt. Und sie war nackt. Baba Mahmood glitt das Weinglas aus der Hand und es zerschellte auf dem Küchenboden. „Sheila“, sagte er. Sie reckte eine Hand in die Luft und formte sie zu einer Klaue. Baba Mahmood merkte, wie bei dieser Geste das Gefühl des Erstickens in seine Brust zurückkehrte.
„Hallo Mahmood“, wisperte sie. „Du hast also ein Problem mit einem Geist.“
VIII. 13. Dezember 2023 – 06:00 Uhr
„Du hältst es doch eh nicht ohne aus. Also gieße dir ein neues Glas ein und dann SETZ‘ DICH HIN!“ befahl sie ihm. Mit bebenden Händen fischte Baba Mahmood ein neues Weinglas aus einem der Küchenschränke. Die Flasche nahm er mit zum Tisch. Er setzte sich voller Angst. Sie sah, wie seine Hände zitterten und nahm ihm die Flasche aus der Hand. „Warte, ich helfe dir“, sagte sie und goss ihm das Glas ein. Baba Mahmood atmete durch und dehnte den Kragen seines T-Shirts. Er trank das Glas bis zur Hälfte aus und stellte es wieder ab. Noch immer starrten seine Augen sie fassungslos an.
Auf dem Küchentisch lagen mehrere Bücher, in denen Baba Mahmood offenbar gelesen hatte. „Hast du jetzt einen Ausweis für die Stadtbücherei?“ fragte sie spöttisch.
„Sheila, ich…“ formulierten seine Lippen. „NASSAYA AHLAM!“ zischte sie aus der dunklen Ecke und erhob wieder ihre Hand zur Geste der Klaue. Baba Mahmood griff sich an den Hals und machte ihr mit wedelnden Händen zu verstehen, dass er verstanden hatte. Sie ließ von ihm ab.
„Wo bist du die ganze Zeit gewesen?“ fragte Baba Mahmood, nachdem er wieder Atem geschöpft hatte. Sie lächelte. „Ägypten“, sagte sie mit blitzenden Augen. „Bei unseren Eltern. Und Anderswo.“ „Unsere Eltern sind tot“, sagte Baba Mahmood. „Dein Geist ist beschränkt, Bruder“, sagte Nassaya Ahlam, „aber wie ich sehe, versuchst du diesen unglücklichen Zustand zu ändern.“ Sie blätterte in einem der Bücher. „Warum bist du nicht angezogen?“ fragte Baba Mahmood und gestatte seiner Stimme den leichten Tonfall einer Empörung. „Ich bin eine freie Frau in der freien, westlichen Welt, Mahmood“, zischte Nassaya Ahlam. „Und darüber hinaus bin ich so gekleidet wie bei unserer letzten Begegnung. Ich hielt es also für angemessen.“ Baba Mahmood bekam einen heftigen Schmerz in vorderen Bereich seiner Stirn und etwas klingelte in seinen Ohren. „ENTSPANN DICH!“ befahl sie ihm und die negativen Phänomene verblassten augenblicklich.
„Bist du hier um mich zu quälen?“ fragte er besorgt. „Ich werde etwas ausgleichen“, wisperte sie ihm zu und fuhr fort, die Bücher zu studieren. „Bücher über Magie… Du wagst dich aber weit vor, Mahmood. Bist du sicher, dass Allah das gefällt, was du hier tust?“ „Ich versuche nur etwas zu verstehen“, sagte er vorsichtig. „Die Kontrolle über das Träumen von Friedrich Karl Kötelbeck“, sagte sie amüsiert. „Oh, Mahmood, willst du mir etwa Konkurrenz machen?“ Sie lachte, dass ihr die langen schwarzen Haare ins Gesicht fielen. Dann wurde ihre Stimme wieder ernst. „Dein Imperium ist bedroht. Er wird kommen um es zu zerstören.“ Sie nahm ein weiteres Buch in die Hand. „Gelsenkirchener Geschichten. Hier findest du, was du über dein Phantom wissen musst, Mahmood.“ Baba Mahmood nahm das Buch in die Hand. „Du willst auf diesen Bergmann hinaus, der 1964 gestorben ist. Ja, daran habe ich auch gedacht. Das Phänomen scheint sich überwiegend in Bismarck abzuspielen. Bei Consol ist er das erste Mal aufgetaucht. Und diese ganzen Geschichten über eine Art guten Geist unter Tage, der die Kumpel vor Unfällen bewahrt, würde ebenfalls passen. Ein moralischer Geist, der nichts von meinen Geschäften versteht. Was mich daran stört ist, dass es alles auf das Gefasel eines alten, blinden Mannes zurückgeht und es keine weiteren Quellen dazu gibt.“ „Du weißt, dass es wahr ist, Mahmood“, zischte Nassaya Ahlam, „Vertraue deinen Instinkten.“ Baba Mahmood schwieg, aber er ahnte, dass seine Schwester recht haben würde. Er dreht das Weinglas in seinen Händen und starrte gedankenverloren in die dunkle Flüssigkeit.
„Ich kann dir helfen“, wisperte sie dann. „Du musst mich nur darum bitten.“ Baba Mahmood hatte geahnt, dass sie so etwas sagen würde. „Und was willst du dafür?“ fragte er. „Frieden, Mahmood“, sagte sie. „Du wirst aufhören, deinen Hass gegen mich zu richten und im Gegenzug werde ich aufhören, dir den Schlaf zu verderben. Ich habe Kontrolle über die Welt der Nacht, Mahmood. Dein Hass ist für mich wie Messerstiche. Was ich mit dir mache ist ein Akt der Selbstverteidigung.“ Die rasenden Kopfschmerzen und das Klingeln kehrten zurück. Baba Mahmood presste beide Hände gegen die Ohren und schrie vor Schmerzen. „DEAL?“ hörte er die raumerfüllende Stimme von Nassaya Ahlam in seinem Kopf erschallen. „Deal!“ rief er und die Schmerzen und der Lärm verschwanden augenblicklich. Baba Mahmood rang um Atem. „Was schlägst Du vor?“ fragte er.
Nassaya Ahlam lehnte sich im Stuhl zurück und lachte. „Du hast einem Aspekt der Geschichte vom geisterhaften Bergmann bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Das Gefasel des alten, blinden Mannes, wie du sagst, beginnt bei einem Ereignis im Jahr 1938 und einem Mann namens Heinrich Himmler.“ „Was gehen mich die Probleme der Deutschen an?“ fragte Baba Mahmood mit einer gewissen Abfälligkeit. „Ich befürchte, wenn du dein Problem lösen willst, Mahmood, dann musst du deine kläglichen geistigen Beschränkungen aufgeben“, zischte sie. „Du brauchst sein Buch.“ Baba Mahmood nahm die Gelsenkirchener Geschichten in die Hand und suchte blätternd die genannte Stelle. „Das Tagebuch des Demetrius Setianus?“ Nassaya Ahlam nickte. „Du wirst noch einmal in die Stadtbücherei gehen und ein Exemplar davon besorgen.“ Baba Mahmood rollte mit den Augen ob ihres Befehlstons. „Und… Mahmood…“, begann sie zu fragen und griff nach seinem Arm. Er blickte ihr direkt ins Gesicht. „Habt ihr noch das Problem mit den Einkaufswagen, die überall herumstehen?“ Er nickte. „Karl und Mohammed müssen so viele wie möglich davon besorgen. Und einen Generator, Draht und Kabelbinder.“
IX. 31. Dezember 2023 – tagsüber
Seit Nassaya Ahlams Erscheinen litt Baba Mahmood unter anhaltenden Kopfschmerzen. Trotz regelmäßiger Einnahme von Ibuprofen, die er wie Bonbons konsumierte, ließ der Schmerz kaum nach. Sie beherrschte die Nacht, hatte sie erklärt, und Baba Mahmood begann allmählich zu verstehen, was das bedeutete. Ihre Macht erstreckte sich über Träume, und das schien nicht nur einzelne Personen zu betreffen. Zu seiner Verwunderung schienen Karl und der große Mohammed ihre Anwesenheit gar nicht zu bemerken. Bald wurde ihm klar, dass sie tatsächlich für niemanden sichtbar war. Wie ein Schleier legte sich ihre hypnotische Kraft Nacht für Nacht über das Bewusstsein der Menschen in Gelsenkirchen. Nun waren auch er, Baba Mahmood, sowie Karl und Mohammed Teil dieser Unsichtbarkeit geworden. In der letzten Woche hatte Nassaya Ahlam sie nach und nach in ihren Bann gezogen und Karl sowie Mohammed vergessen lassen, dass sie überhaupt unsichtbar waren. Sie agierten wie Geister, die ihren eigenen Tod nicht bemerkt hatten, und gingen weiterhin ihren Aufgaben für Baba Mahmood nach, ohne dass ihre Familien ihre Abwesenheit registrierten. Auch dafür hatte Nassaya Ahlam gesorgt.
Nassaya Ahlam erkannte schnell, dass die Arbeit von Karl und Mohammed allein für ihr geplantes Projekt nicht ausreichen würde. Sie instruierte daher alle Gelsenkirchener, die in jener Woche in der Innenstadt einkauften, ihre Einkaufswagen nach dem Einkauf zum großen Platz vor dem Hans-Sachs-Haus zu schieben. Einigen kräftigen Jugendlichen, deren Alltag sonst von Rohheiten und kleineren kriminellen Handlungen geprägt war, wies sie an, die Einkaufswagen mit Draht und Kabelbindern zu einer riesigen Pyramide zu verflechten. Diese Pyramide sollte unter Strom gesetzt werden, sobald der Geist des Bergmanns darin erschien. Nassaya Ahlam wusste, dass Geister nichts mehr hassten als Magnetfelder und Elektrizität, da diese ihre Bewegungsfreiheit einschränken. Sie sorgte zudem dafür, dass niemand die Pyramide vor dem Hans-Sachs-Haus wahrnahm und auch niemand ein Interesse daran hatte, diesen Platz überhaupt zu besuchen. Das Ritual war für die Silvesternacht angesetzt, um eventuelle Geräusche oder vielleicht doch anfallende sichtbare Spuren zu verbergen. Die Jugendlichen gingen nach vollendeter Tat nach Hause, vergaßen was sie getan hatten und wunderten sich am nächsten Morgen, woher sie den enormen Muskelkater hatten.
Von der Macht seiner Schwester überzeugt, kam Baba Mahmood sich nun selbst vor wie ein Magier. Was hatte sie gesagt, was würden sie tun? Sie würden das Ritual durchführen. Der Geist würde erscheinen. Im Anschluss würden sie die Pyramide unter Strom setzen und es ihm dadurch so unbequem machen, dass er gezwungen wäre, den Körper, den er besetzt hielt, wieder freizugeben. Seine Schwester würde den Geist bannen können, erwartete aber, dass er ohnehin die Form eines mondänen Gegenstands annahm. Eine Laterne würde es sein. Den Mann würden sie dann erschießen, die Laterne zerschlagen. Der Spuk wäre dann vorbei. Niemand würde Baba Mahmoods Männern in Zukunft in die Quere kommen. Es würde ein schönes und ruhiges Leben werden. Kein Gruselkram mehr und ruhiger, erholsamer Schlaf. Vielleicht würde er doch den klassischen Weg seiner Vorfahren beschreiten. Sich eine Frau nehmen, Kinder kriegen, mit dem Rotwein aufhören. Und seine Schwester könnte dann… Die Kopfschmerzen kehrten zurück und Baba Mahmood suchte nach der Packung mit dem Ibuprofen.
Er versuchte krampfhaft, diesen Tag und das, was sie nun tun würden, so seltsam auch alles war, als etwas Positives zu sehen. So hatte er sich seit langer Zeit wieder einen vernünftigen Anzug angezogen und sich auf Geheiß seiner Schwester seinen ergrauten Bart gekämmt. Er sah in den Spiegel und war mit seinem Aussehen zufrieden. Er wusste jedoch, dass seine Eltern ihn gefragt hätten, ob er auf eine Beerdigung ginge. Diese elenden Kopfschmerzen, wann würden sie endlich verschwinden? Baba Mahmood suchte noch seinen schwarzen Mantel. Es war kurz vor 23 Uhr.
Karl und der große Mohammed trugen wie so oft einen Jogginganzug unter ihren Winterjacken. Als Baba Mahmood zum Auto kam, öffneten sie den Kofferraum. Baba Mahmood reichte jedem von beiden eine Maschinenpistole vom Typ MP5. Karl und Mohammed begutachteten die ihnen gut bekannten Waffen, luden und sicherten sie und verstauten sie anschließend im Kofferraum neben einem großen Benzin-Generator. Sie fuhren los. Keiner sprach ein Wort. Baba Mahmood war erneut beeindruckt von der Wirksamkeit der Hypnose seiner Schwester. Absolut niemand nahm sie wahr.
X. 31. Dezember 2023 nachts
Ein starker Wind ging und es fiel leichter Nieselregen. In der Ferne hörten sie, wie die Gelsenkirchener mit dem Feuerwerk angefangen hatten. Explodierende Raketen versetzten den Himmel in vibrierendes Leuchten. Die Luft trug Knallen und Heulen herbei. Nassaya Ahlam hatte Metallgefäße mit brennendem Benzin an den Ecken der Einkaufswagenpyramide aufgestellt. In einer schwarzen Robe mit Kapuze umschlich sie die Pyramide wie eine Katze und stieß dabei unverständliche Laute in alle vier Himmelsrichtungen. Karl und der große Mohammed standen mit den Maschinenpistolen bewaffnet bei Baba Mahmood, der einige Meter Abstand zur Pyramide hielt und nun doch in nervöse Aufregung gerat. Was machten sie hier, verdammt nochmal? Am Himmel ertönte ein leichtes Donnergrollen. Den Generator hatten sie mit der Pyramide verdrahtet und in Betrieb gesetzt. Auf ihren Befehl hin, würde Baba Mahmood den Stromfluss einschalten.
Nassaya Ahlam ließ die Robe von sich fallen und trat nackt vor die Front der Pyramide. Ehrfurchtsvoll blickte sie in den Himmel. Dann klatschte sie zweimal laut in die Hände, reckte eine Faust empor und begann die Worte aus dem Tagebuch des Demetrius Sethianus zu rezitieren:
„ẖr rḥw imt nb ḥrwt, ntr-ḥꜣt ra nṯrw ḏlḏbwt, mnf.
ym r zḫʿ, ntr ntrw, r-tꜣḥw tꜣ n kꜣs, njr ḥr ẖtmw ẖʿ-tp.
wn ẖtmw r-zmn n r-ḥr, wp-ẖnt-f ỉỉi nfr-tꜣ mạa ỉḫ.
mꜣ-ỉỉi n wḏʿ ẖꜣỉ mạa r-gꜣnn m’ỉỉ, ntr ỉỉit wjz m’ỉỉ.“
Baba Mahmood fühlte, wie sich die kalten Hände eines nach und nach aufsteigenden Nebels über sie gelegt hatte und sie überall anfasste. Wie gebannt starrten sie in die Mitte der Pyramide in der Erwartung, dass irgendetwas geschehen würde. Ein Tropfen Schweiß fiel von seiner Stirn auf den Boden. Baba Mahmood war ihm unwillkürlich mit den Augen auf seinem Weg nach unten gefolgt und betrachtete seine Lederschuhe, die er zum Anzug gewählt hatte. Eigentlich ein ziemlich unpraktisches Schuhwerk, dachte er sich. Geeignet vielleicht für die Arbeit in einem Büro, aber unpraktisch in anderen Situationen des Alltags. Dann sah Baba Mahmood, wie ein Ende seiner Schnürsenkel langsam, und von vibrierenden Bewegungen getrieben vom glatten Leder seines rechten Schuhs wanderte und realisierte, dass die Erde auf der er stand, anfing zu beben.
Auch die Luft schien trotz des Regens von einer Art wabernder Bewegung durchzogen. Baba Mahmood merkte, wie warme Wellen seinen Körper durchfuhren und ihm ein flaues Gefühl in der Magengegend verschafften. Ein Licht kam aus dem Inneren der Pyramide, wurde heller und heller, so dass er sich die Hände vors Gesicht halten musste. Die Einkaufswagen surrten und vibrierten. Und dann war da noch ein weiterer Klang, der sich nach und nach aufbaute, immer lauter wurde, bis hin zur Unerträglichkeit. Wie das Brüllen eines Tieres. Aber Baba Mahmood hatte ein solches Tier noch nie gehört. Er wusste nicht, wie er sich gleichzeitig die Augen und die Ohren zuhalten sollte. Über allem thronte sein Kopfschmerz, von dem es ihm jetzt vorkam, als würde dieser ihn verächtlich verhöhnen. Dann endlich erstarben das Licht und das Geräusch abrupt und Baba Mahmood beugte sich vor, lehnte die Arme an die Knie und fürchtete, erbrechen zu müssen. Er hörte seine Schwester wie aus der Ferne etwas rufen. Er verstand nicht, was. Immer und immer wieder rief sie es. „Mahmood!“ rief sie wütend. „Mahmood! Leg endlich den verdammten Schalter um, Mahmood!“ Er realisierte ihre Worte, rannte wie auf weichem Gummi zum Generator und schaltete den Strom ein. Das Surren der Elektrizität fraß sich durch das Geräusch des nun heftiger fallenden Regens. Baba Mahmood gewann wieder Abstand zur Pyramide und stellte sich zwischen Karl und Mohammed, die in ihrer Trance offenbar keine Angst empfanden. Dann konnte er ihn sehen. Da stand er, in der Mitte der Pyramide. Der Bergmann, geisterhaft und schrecklich. Das Kirchturmläuten klang aus der naheliegenden Altstadt herbei. Mitternacht. Jahreswechsel. Anstoßende Gläser. „Frohes neues Jahr“.
XI. 01. Januar 2024 kurz nach Mitternacht
Der Blick des Bergmanns fixierte Baba Mahmood mit leblosen Augen. Dieser schaute nervös zwischen dem monströsen Ungetüm und seiner Schwester hin und her und fragte sich, was nun weiter passieren würde. Nassaya Ahlam trat vor die enorme Erscheinung hin, reckte einen Arm in die Luft, um auf diesen mit dem Finger zu zeigen. „Sprich, Geist, wie ist dein Name?“ fragte sie in einem strengen Befehlston.
Der Geist verharrte in seiner Bewegungslosigkeit, öffnete dann aber seinen vertrockneten Mund und begann gleichzeitig in unterschiedlichen Stimmen zu sprechen, jede mit einem eigenen Klang, doch ineinander verwoben wie ein einziger, mehrstimmiger Chor. Die Worte überlappten sich, verschmolzen miteinander und bildeten einen vielstimmigen Namen. Mit jedem Laut, den er von sich gab, steigerte sich ein eiskalter Wind.
HARALD KAMINSKI!
DEMETRIUS SETHIANUS!
I A L D A B A O T H!
Baba Mahmood spürte, wie sich bei dem Klang der Namen eine Gänsehaut über seinen Rücken zog. Die Stimmen hallten in seinem Kopf wider, als würden sie aus verschiedenen Epochen und Welten stammen, doch waren sie untrennbar miteinander verbunden. Der Bergmann begann nun ebenfalls schwerfällig einen Arm zu heben, um einen Finger auf ihn zu richten. „HEUTE NACHT WIRST DU STERBEN!“ verkündeten alle drei Stimmen gleichzeitig wie ein Gerichtsurteil. Baba Mahmood war nun selbst in bewegungsloser Starre gefangen und wie eingefroren.
Nassaya Ahlam ging auf ihren Bruder zu und verpasste ihm eine Ohrfeige. „Beweg dich! Dreh den Strom hoch! Wir brauchen mehr Strom!“ herrschte sie ihn an. Baba Mahmood gehorchte, rannte zum Generator und steigerte dessen Leistung aufs Maximum. Sichtbare Blitze durchzuckten die Einkaufswagen. Der Geist in ihrem inneren begann nun, stark zu rauchen. Der Wind trieb die dichte Rauchwolke in die Innenstadt. „Es funktioniert!“ rief Nassaya Ahlam. „Sie trennen sich!“
Der Rauch verflog und der Mann im inneren der Pyramide brach zusammen. Baba Mahmood blickte fragend seine Schwester an. Diese nickte ihm zu. Er nahm das als Zeichen, den Strom abzuschalten. Dann sah er zu Karl und Mohammed hinüber und rief: „Macht schon, zieht ihn da raus!“ Sie gehorchten, liefen zur Pyramide, entfernten zwei Einkaufswagen, um einen Zugang ins Innere zu erhalten. Dann zogen sie den riesigen, bewusstlosen Mann aus ihrem Inneren heraus. Baba Mahmood staunte, dass der Mann sogar noch größer als Mohammed war.
Sie drehten ihn auf den Rücken. Der Mann atmete. Regen fiel auf sein bärtiges Gesicht. Er öffnete die Augen und sah sie an. Dann drehte er den Kopf und erkannte die Pyramide. Seine Gesichtszüge verfinsterten sich, wie bei einem Tier, das nun knurren würde. Baba Mahmood trat zwei Schritte zurück, um Abstand zu schaffen. Karl und Mohammed taten es ihm gleich, die Waffen im Anschlag auf den Mann gerichtet. Dieser stand nun auf und begann dann, durch Bewegungen seines Kopfes zu den Seiten, seine Nackenmuskulatur zu dehnen.
„Bist du Harald Kaminski?“ fragte Baba Mahmood mit erhobener Stimme, um den Regen zu übertönen. Der Mann zog die Mundwinkel hoch zu einem künstlichen Lächeln. Dann ging er zielgerichtet auf Baba Mahmood zu. „Ja, das ist richtig“, sagte der Mann, „ich bin Harald Kaminski. Und das hier ist meine Faust!“ So schnell, wie der Mann den Arm hob und ihn mit der Unterseite seiner enormen Faust aufs Gesicht schlug, hatte Baba Mahmood sich nicht schützen können. Er taumelte und fiel nach hinten. Er merkte, wie ihm ein Schwall Blut aus der Nase durch den Bart auf die Brust lief. Verdammt, das bedeutete Krankenhaus, dachte er sich. Harald Kaminski drehte sich um, und ging zur Pyramide zurück. „Verdammt nochmal, erschießt ihn! Schießt ihr Idioten, schießt!“ hörte Baba Mahmood sich selbst schreien. Harald Kaminski rannte los. Karl und Mohammed begannen zu feuern. Innerhalb von drei Sekunden hatten sie ihre Magazine geleert und jeweils dreißig Schüsse auf den Mann abgegeben, der aus vielen Wunden blutend zu Boden fiel und weiter auf das Zentrum der Pyramide zukroch. Baba Mahmood war aufgestanden und dem Mann hinterhergelaufen. „Die Laterne!“ hörte er seine Schwester rufen. „Zerstör‘ die Laterne!“ Baba Mahmood rannte in Panik um die Pyramide herum und versuchte, darin irgendwo eine Laterne zu erkennen. „Hier ist nichts!“ rief er ihr zu. Aus seiner Stimme klang Verzweiflung. „Sie muss da irgendwo sein!“
Baba Mahmood war derselben Fehlannahme erlegen, wie Heinrich Himmler im Jahr 1938. Nur ein Priester oder ein Sterbender waren in der Lage, die Laterne des mächtigen IALDABAOTH überhaupt zu erkennen. Harald Kaminski hatte mit seinem letzten Atemzug das Innere der Pyramide erreicht. Baba Mahmood sah noch, wie dieser den Arm ausstreckte, um nach etwas in der Dunkelheit zu greifen. Blankes Entsetzen ergriff ihn, als er erkannte, dass im Inneren der Pyramide ein goldenes Licht entstand. Baba Mahmood wusste, dass er nun in großen Schwierigkeiten war. Mit aufgerissenen Augen sah er sich nach Nassaya Ahlam um, aber seine Schwester war verschwunden.
XII. 01. Januar 2024 kurz vor 01:00 Uhr
Das goldene Licht intensivierte sich, so dass Baba Mahmood erneut seine Augen schützen musste. Ein Donnergrollen durchfuhr die Pyramide, die Einkaufswagen surrten, knisterten und knackten. Als das Licht wieder erloschen war, sah Baba Mahmood wie die enorme Gestalt von Harald Kaminski sich aufrichtete und sich langsam zu ihm umdrehte. Mit seinen nun wieder tot erscheinenden Augen blitzte er ihn an und zwinkerte ihm zu. Dann hörte Baba Mahmood diese schreckliche Stimme, die in seinem Kopf zu sprechen schien.
„HAST DU WIRKLICH GEGLAUBT, DASS ES SO EINFACH WÄRE, M A H M O O D?“
Bebend vor Schrecken sah Baba Mahmood, dass der Bergmann nun zu brennen begann. Schließlich schoss dieser als enormer Feuerball in den Himmel, wobei die Einkaufswagen in alle Richtungen flogen. Dann sank die Gestalt des Bergmanns zurück, um über den Resten der Pyramide zu schweben. Sie hob den Arm mit der Laterne in die Luft und nun begannen die Einkaufswagen ihrerseits ebenfalls zu schweben und die brennende Gestalt wie einen Ring zu umkreisen. „NA, WO IST SIE DENN, DEINE SCHWESTER, M A H M O O D?“
Der Bergmann richtete die Laterne nun in die Richtung von Karl und Mohammed. Mit einer Bewegung seiner anderen Hand schossen die Einkaufswagen nun auf diese los, wie die Munition aus den Maschinenpistolen. Innerhalb weniger Sekunden lagen die zerfetzten Körperteile von Karl und Mohammed in der Gegend verstreut, eingegraben in das verbogene Metall. „SIND DIE KOPFSCHMERZEN NOCH DA, JA?“ Baba Mahmood rannte Richtung Innenstadt. Die Hose seines Anzugs riss dabei im Schritt. Der schwebende Bergmann folgte ihm ohne Eile. Der Regen hatte aufgehört.
Baba Mahmood bog nach links in die Hauptstraße ein. Ein paar Einkaufswagen flogen an ihm vorbei und durchschlugen links und rechts neben ihm die Fensterscheiben eines Cafés und eines arabischen Supermarktes. „WO IST DEINE SCHWESTER, M A H M O O D?“ raunte die Stimme des Gespenstes. „NA, WILL DIE ERINNERUNG ENDLICH ZURÜCKKEHREN?“
Baba Mahmood rannte weiter. Wo konnte er nur hin? Beim Blick nach hinten sah er den brennenden Bergmann über der Hauptstraße schweben, immer noch von einem sich drehenden Ring aus Einkaufswagen umgeben. Er musste in eines der Häuser kommen, in einen Keller, eine Wohnung, scheißegal. „DENK AN ALL DIE KINDER, DIE DU VERKAUFT HAST, M A H M O O D! KANNST DU IHRE SCHREIE HÖREN? DER KLEINE JOEL HAT ÜBRIGENS MIT DEM GITARRE SPIELEN ANGEFANGEN.“
Baba Mahmood flüchtete in eine Eingangspassage kurz vor dem Anfang der Gildenstraße und drückte wie wild sämtliche Klingeln und hämmerte gegen die Tür. „Macht auf! Macht auf! Macht auf!“ schrie er. Die Stimme des Bergmanns fuhr fort. „WAS IST MIT IHR PASSIERT, M A H M O O D? GESTEHE, DANN STIRBT ES SICH LEICHTER!“ Die Tür rührte sich nicht. Baba Mahmood realisierte, dass er zwischen der geschlossenen Tür und der Öffnung der Passage vielleicht bereits in der Falle saß. Er rannte die Passage zurück. Wenn er schnell war, schaffte er es bis zur Georgskirche. Vielleicht konnte der Geist die Kirche nicht betreten. Der Bergmann betrat den Eingang zur Passage. Baba Mahmood stoppte und wich zurück. Es war zu spät. Hinter der Gestalt des Bergmanns verstopften die Einkaufswagen den Eingang zur Passage wie ein Korken eine Flasche. Er war eingesperrt.
„Okay, okay, ich gebe es zu. Sie ist tot! Sie ist tot!“ Baba Mahmood wedelte mit den Händen.
„JA, SIE IST TOT, M A H M O O D. DU HAST SIE ERMORDET. IN IHREM BETT. MIT EINEM MESSER!“
„Ja, das habe ich getan!“ Baba Mahmood kamen die Tränen. „Sie lebte nicht, wie unsere Eltern es wollten. Sie hatte einen Freund. Ich war voller Hass!“ schrie er den Bergmann an. „Ich bereue es jeden einzelnen Tag!“
Baba Mahmood sank auf die Knie. „Was kann ich tun?“ fragte er dann. „GRATULIERE, DU KANNST DIE LETZTEN MOMENTE DEINES LEBENS OHNE KOPFSCHMERZEN GENIEẞEN,“ tönte die Stimme des Bergmanns. „UND ICH BIETE DIR EIN GESCHÄFT AN, BEI DEM DU ENDLICH EINMAL ETWAS RICHTIG MACHEN KANNST, M A H M O O D. EIN LEBEN FÜR EIN LEBEN.“
In Baba Mahmoods Kopf entstanden nun Bilder von einer Zukunft, an der er nicht mehr teilnehmen würde. Er sah, wie sich die Zukunft entfalten würde, je nachdem, für welche der beiden Varianten er sich entschied. Beide hatten lichte und schattige Momente, aber eine Version enthielt deutlich mehr Chancen. Nur nicht für ihn.
„ENTSCHEIDE!“ raunte die Stimme ihn an. Baba Mahmood senkte den Kopf. „Tu, was du vorgeschlagen hast!“ sagte er. Der Bergmann hob die Laterne in die Luft und die Passage füllte sich mit gleißendem Licht.
XIII. 01. Januar 2024 – 01:30 Uhr
Ben Void öffnete die Augen und erblickte die Gestalt eines Bergmanns, der eine Laterne in die Luft hob. Mist, dachte er sich, er war auf der Toilette eingeschlafen. Filmriss, Blackout, Gedächtnisverlust. Wer weiß, wie lange er hier schon saß. Er hätte nicht noch einen dritten Dry Martini zu dem ganzen Bier und dem Sekt trinken sollen. Wie lang sein Kopf wohl ausgeschaltet gewesen war? So lang kann es eigentlich gar nicht gedauert haben, sonst hätte schon jemand an die Tür geklopft. Er nahm das Buch auf, das vor ihm auf dem Boden lag und betrachtete die aufgeschlagene Szene. Alltag von Bergleuten unter Tage. Er klappte das Buch zu und betrachtete den Einband. Gelsenkirchener Geschichten. Nun gut.
„Bist Du bald fertig da drin?“ Thorsten klopfte an die Tür. „Alles in Ordnung?“, fragte er.
„Ja, ich komme sofort.“ Ben spülte und zog sich hastig und ungeschickt seine Hose wieder an. In seinem Kopf pulsierte ein aufsteigendes Schamgefühl. Er wusch sich die Hände und öffnete die Tür.
„Was, ist denn keiner mehr da?“, fragte er erstaunt und sah sich in Thorstens Wohnzimmer um. „Die letzten sind gerade gegangen. Du warst eine ganze Weile auf dem Klo.“ „Ich muss einen Moment lang eingeschlafen sein. Ist aber ein nettes Buch, das du hier rumfliegen hast.“ „Das gehört mir gar nicht,“ sagte Thorsten und drückte Ben ein Bier in die Hand. „Das hat irgendwer hier mal vergessen.“ Ben wollte eigentlich gehen. Nun setzte er sich und begann an dem Bier zu nippen.
Das war sie also gewesen, die Silvesternacht. Viel geknallt worden war offenbar nicht. Aus der Ferne hatten sie einige Raketen aufsteigen sehen, aber für Gelsenkirchener Verhältnisse war es recht ruhig gewesen. Fast so, als wären alle Leute weggezogen. Dann Bleigießen. Ben hatte zum zweiten Mal in seinem Leben eine Schreibfeder gegossen. Ob er mal wieder ein Buch schreiben würde? Das letzte war nun auch schon wieder sieben Jahre her. Regelmäßig schrieb er wirklich nicht. „Komm, wir gehen noch draußen eine rauchen und danach schmeiße ich mich mal raus,“ sagte er zu Thorsten und begann zwei Zigaretten zu drehen.
So betraten beide um kurz vor zwei Uhr morgens den Balkon von Thorstens Dachgeschosswohnung in der Gelsenkirchener Altstadt. Es hatte geregnet, aber jetzt war der Himmel klar und sie konnten den großen Wagen sehen. Dann erkannte Ben einen goldfarbenen Streifen, der sich über den Himmel bewegte und zeigte darauf. „Ist das wohl ein Meteor?“ Thorsten kniff die Augen zu und fixierte das eigentümliche Objekt.
„Dafür bewegt es sich zu seltsam. Serpentinenartig, fast wie eine Schlange.“ Thorsten blies Rauch in den Nachthimmel. „Könnte also ein Drache sein.“ Beide lachten. Langsam zog das Objekt Richtung Bismarck und verschwand in der Gegend, in der auch Ben Void in Kürze verschwinden würde.
Ben lehnte die Arme auf das Geländer und schaute nach unten. Ist wirklich nicht viel geknallt worden, dachte er sich. Auch gut, weniger Müll.
Dann weiteten sich seine Augen. „Thorsten, guck mal dort!“ Um die Ecke bog eine Frau mit langen, schwarzen Haaren in seine Straße ein, die desorientiert wirkte und sich immer wieder umblickte, als wüsste sie nicht, wo sie sich befand. Sie war barfuß unterwegs und schien nur in einer Art Decke oder Robe gehüllt zu sein. „Eine Obdachlose“, sagte Thorsten. „Ich glaube nicht, dass das eine Obdachlose ist“, erwiderte Ben. Da muss was passiert sein, dachte er sich. „Die Frau holt sich bei dem Wetter doch den Tod.“ Er ging zurück in Thorstens Wohnung, griff zu seinem Mobiltelefon und tippte die Nummer 112 ein, für den Fall, dass er sie würde wählen müssen.
„Thorsten, ich bin K.O., ich haue jetzt ab. Werde unten mal nachschauen, ob alles in Ordnung ist und vielleicht nen Krankenwagen rufen. Danach laufe ich mal der Drachenschlange hinterher.“ Ben zog sich seinen halblangen Ledermantel an und griff nach seinem Rucksack. Sie verabschiedeten sich und die Gestalt von Ben Void verschwand im Hausflur.
XIV. Epilog
Irgendwo in einer zeitlosen, formlosen Dunkelheit berieten sich drei Stimmen.
Demetrius: „Einem der Menschen, die das Trauwandern erlernten, …“
Harald: „… ist es gelungen, auch die Grenzen von Zeit und Raum zu sprengen und…“
IALDABAOTH: „… NUN ENTFÜHRT ER KINDER UM SIE…“
Demetrius: „… seiner krankhaften Vorstellung nach in…“
Harald: „… metallische Strukturen zu verwandeln und…“
IALDABAOTH: „… IN EINKAUFSWAGEN!“
Demetrius: „Wir werden uns…“
Harald: „… dieser Person…“
IALDABAOTH: „… ANNEHMEN.“
Demetrius: „Die Strafe muss dem Vergehen angemessen sein.“
Harald: „Das wird sie, oh, das wird sie!“
IALDABAOTH: „DER TOD! DIE NICHTEXISTENZ!“
Demetrius: „Friedrich Karl Kötelbeck!“
Harald: „Wir werden ihn jagen und …“
IALDABAOTH: „…ZUR STRECKE BRINGEN!“
Dezember 2023 |
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